Die Anderen by Jeschke Wolfgang

Die Anderen by Jeschke Wolfgang

Autor:Jeschke, Wolfgang [Wolfgang, Jeschke]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: WILHELM HEYNE VERLAG
veröffentlicht: 2015-08-30T16:00:00+00:00


Etwas glitt über mein Gesicht. Ich erwachte. Es war dunkel, noch Nacht. Eine Hand zupfte zärtlich an meinem Ohr, huschte erneut über mein Gesicht, ein dünner Arm umschlang meinen Hals.

»Schläfst du?«, flüsterte die Stimme des Mädchens ganz nahe.

»Ja«, hauchte ich ebenso leise.

»Nein, du schläfst nicht«, sagte sie dicht an meinem Ohr, und ich spürte, wie ihre Lippen die Worte formten.

»Was ist?«, forschte ich überrascht.

»Ich bin es. Diana. Und wie heißt du?«

»Louis, aber …«

»Louis ist schön.« Ihre Zunge fuhr an meinem Ohr entlang und formte meinen Namen, als fahre sie dem Klang der Laute nach. Was war mit der Kleinen los? Das kleine Luder! Die Sache war mir peinlich und ich versuchte, ihren Arm von meinem Hals zu lösen.

»Lass!«, hauchte sie und küsste mich aufs Ohr.

»Warum hast du mich geweckt?«

»Ich wollte dich fragen, ob du mit mir baden gehst.«

»Baden?«, flüsterte ich entgeistert.

»Ja.«

»Jetzt mitten in der Nacht?«

»Ja, nachts ist es am besten.«

»Aber zum Kuckuck, wo willst du denn im Winter baden? Im Schnee?«

»Nein«, kicherten die Lippen belustigt und fuhren an meinem Ohr auf und ab. »Hier sind doch Bäder, die immer warm sind.«

»Hier in Uraney?«

»Ja doch!«

Ich sah das verstümmelte Gesicht mit der Sense. Es lächelte sein verstümmeltes Lächeln und die Sense holte weit aus, schwang herein und fuhr knirschend tief in den Schnee, wieder und wieder, eine lange Mahd, und der Schnee wurde schwarz.

»Unterirdisch, weißt du«, sagte ihre Stimme.

»Du kannst doch morgen baden. Nachts ist es doch sicher gefährlich«, wandte ich ein.

»Keine Spur! Ich weiß, wie man Licht macht.«

»Aber warum soll ausgerechnet ich mit dir baden gehen? Deine Eltern wären sicher böse.«

»Nein, sie wissen es.«

»Dass du nachts mit mir baden gehst? Warum geht denn dein Bruder nicht mit?«

»Der ist doch blöd«, kicherte sie.

Sie schmiegte sich eng an mich.

»Allein habe ich Angst. Bitte, bitte geh mit!«, drängte sie.

»Also ist es doch gefährlich!«

»Nein. Bitte, Louis, bitte«, bettelte sie.

So konnte ich also den kleinen Quälgeist nicht loswerden. Ich überlegte. Vielleicht konnte ich mich wenigstens etwas waschen, die Füße bei Licht untersuchen. Die Ungewissheit war quälend, der Schmerz beunruhigend.

»Komm doch!«, drängte sie wieder. Sie lag auf mir und ihr Gesicht schmiegte sich an meines. Ich spürte ihren Atem und ihr langes Haar. Eine peinliche Situation, nicht unangenehm, aber wenn jetzt jemand Licht machte, könnte mir die Geschichte dumm ausgelegt werden.

Also gut. Unterirdische Bäder, bei Nacht in dieser verlassenen, zerfallenen Stadt. Riskant, aber wenn sie sich auskannte … »Gut, ich komme mit.«

»Fein, Louis. Du bist lieb.« Sie küsste mich auf den Mund. »Lass das!«, sagte ich, aber ich erwiderte ihren Kuss und hielt sie fest. Ihr magerer Körper war geschmeidig und federleicht. Sie war ein Biest. Ich streichelte sie. Zögernd machte sie sich los.

»Ich zieh mich an und hol den Schlüssel.«

»Schlüssel?«

»Ja, für den Eingang.«

Sie stand auf, huschte fort und hantierte leise im Innern des Wagens. Kleider raschelten. Ich tastete nach meiner Jacke und zog sie an. Schlüssel klirrten und im Dunkeln war das ruhige Atmen der Schlafenden zu hören.

Ich stand auf und wartete und fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Doch da kroch ihre Hand behände in die meine und zog mich mit, führte mich behutsam zum Ausgang.



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